Ein Vierteljahrhundert lang prägten die roten Uerdinger Schienenbusse der einmotorigen Bauart VT 95 den Schienennahverkehr der Aachener Bergbauregion. Am 27. Mai 1978 ging diese Ära der regionalen Eisenbahngeschichte zu Ende. Nach der letzten Samstagsfahrt von Herzogenrath nach Stolberg hatte der VT 95 hier seine Schuldigkeit getan. Dieser Rückblick soll an diesen denkwürdigen Tag erinnern.
Der Einsatz der einmotorigen Uerdinger Schienenbusse im Landkreis Aachen
begann im Dezember 1952. Frisch ab Werk wurden seinerzeit dem Bahnbetriebswerk
Stolberg die Fahrzeuge VT 95 9237 und VT95 9241 zugeteilt, denen bald weitere
folgten. Bereits ab dem Winterfahrplan 1953/54 ist der Einsatz auf der Strecke
Stolberg - Herzogenrath bekannt. Zwischen Herzogenrath und Alsdorf wurde zu
dieser Zeit sogar schon der Gesamtverkehr mit dem VT 95 bestritten. Anfang der
50er Jahre waren die einmotorigen Schienenbusse im Vergleich zu den mit
Dampfloks bespannten Reisezügen modern und komfortabel. Das neue Reisegefühl,
das mit dem Schienenbus auf den Nebenstrecken des Aachener Reviers Einzug
hielt, brachte dem kleinen roten Flitzer hier schnell den Spitznamen
"Kumpelexpress" ein. Auch wenn der einmotorige Uerdinger die beständige
Steigung von Herzogenrath bis nach Mariadorf vollbesetzt und mit angehängtem
Beiwagen nur laut knatternd und eher mühsam bezwang, so konnte er in der
Gegenrichtung und auf dem Streckenstück zwischen Mariadorf und Stolberg seine
Qualitäten als "Express" durchaus vorzeigen. Der in frischem Rot leuchtende,
saubere und durch die Panoramaverglasung helle Schienenbus hob sich von der
grauen, staubigen Bergbauwelt und dem Güterverkehr mit rußgeschwärzten
Dampfloks deutlich ab. Der Einsatz des Schienenbusses bedeutete eine spürbare
Modernisierung auf den Nebenbahnen der Deutschen Bundesbahn, er steht damit
symbolhaft für zunehmenden Wohlstand und die Besserung der Lebensverhältnisse
in der Nachkriegszeit. Das "Wirtschaftswunder" und der Schienenbus sind in der
Erinnerung oft eng miteinander verbunden.
Aber so, wie die Wirtschaftswunderjahre im Wurmrevier von der Kohlenkrise
überschattet wurden, so verblasste auch der Glanz des Schienenbusses. Reisen
mit dem Schienenbus hatte seine Attraktivität eingebüßt und wurde in den 70er
Jahren nunmehr als Basisangebot im Schienennahverkehr empfunden........
Blicken wir zunächst noch einmal kurz auf seine letzten Einsatzjahre auf der
Strecke Stolberg - Herzogenrath.
Am 21. April 1978 warten 795 617 und 995 457 auf Gleis 99 des Stolberger
Hauptbahnhofes auf ihre Abfahrt nach Herzogenrath. Ein typischer Anblick, wie
er auf vielen Bahnhöfen der Deutschen Bundesbahn alltäglich war.
In der goldenen Abendsonne des 21. Oktober 1975 knattert ein unbekannter VT 95
samt Beiwagen auf seinem Weg nach Herzogenrath durch den Rangierbezirk V des
Stolberger Hauptbahnhofes. So allgegenwärtig wie die V 60 im Rangierdienst und
die Dampfloks der BR 50 im Güterzugverkehr des Aachener Bergbaureviers, so
alltäglich war der Schienenbus im Nahverkehr.
Nebenbahnidylle im Landkreis Aachen: Am heißen 4. August 1977 brummt ein
Schienenbus nach Herzogenrath in rasanter Fahrt durch die ländliche Idylle bei
Merzbrück. Kaum zu glauben, dass die Strecke 10 km weiter von Kohlegruben,
Bergarbeiterkolonien, Halden und langen Kohlezügen geprägt wird. So wie hier,
war der Schienenbus häufig ein Bindeglied zwischen Stadt und Land.
Am gleichen Tag saust 795 627 auf seiner Fahrt nach Stolberg durch einen
kleinen Einschnitt unmittelbar neben dem Flugplatz Merzbrück. Bei der
Wiesenfläche vor dem Schienenbus handelt es sich um die Trasse eines
ehemaligen Ladegleises. Während die Bahnanlagen nicht selten gravierende
Veränderungen erlebten, behielt der Schienenbus ein Vierteljahrhundert lang
sein gewohntes Erscheinungsbild.
Doch die Deutsche Bundesbahn hatte Mitte der 70er Jahre begonnen, den
Nebenbahnbetrieb drastisch einzuschränken. Fahrplanausdünnungen und der
Wegfall des Sonntagsverkehrs waren die Vorboten der in den 80er Jahren
folgenden Streckenstilllegungen. Der damit einhergehende geringere
Fahrzeugbedarf ließ zuerst den Schienenbus entbehrlich werden. Am 27. Mai 1978
beendete die Deutsche Bundesbahn den Schienenbuseinsatz in der Region Aachen.
Die letzte Schienenbusleistung von Stolberg in Richtung Herzogenrath fuhren
die beiden Triebwagen 795 240 und 795 541, zusammengekuppelt und entsprechend
dem geringen Fahrgastaufkommen ohne Beiwagen. Hier wird das Gespann auf Gleis
99 des Stolberger Hauptbahnhofes bereitgestellt. Für die anschließende Fahrt
ist die Schlussscheibe bereits schon eingesteckt.
Mit nur wenigen "echten" Fahrgästen und einer kleinen Gruppe von
Eisenbahnfreunden begann der Auftakt des Abschieds. Bei der letzten Ausfahrt
aus dem Stolberger Hauptbahnhof entstand nahe dem Stw Sa, noch im Bereich der
ehemaligen Gleise 99 bis 101, dieses Foto
Zwischen Stolberg und Mariadorf verläuft die Strecke durch den Propsteierwald
sowie eine von der Landwirtschaft geprägte Gegend und hat einen völlig anderen
Charakter als anschließend im Wurmrevier. Um den Schienenbus auch in dieser
Umgebung noch einmal zu dokumentieren, wurde der fahrplanmäßige Halt in St.
Jöris an diesem denkwürdigen Tag zu einem kleinen Fotohalt ausgebaut......
Zwei weitere Fotos des Doppeltriebwagenzuges entstanden im Bf. Mariadorf
Am Haltepunkt Mariagrube grüßt Alsdorf schon von weitem mit einer Dampfwolke
vom Kokslöschen und der Silhouette seiner Bergwerksanlagen.
Nach der Abfahrt aus dem Personenbahnhof Alsdorf bietet der Panoramablick des
Schienenbusses diese Anna-Sicht
Das Einfahrsignal von Herzogenrath markiert das Ende der ersten Halbzeit
dieses Abschiedsspiels.
Der "Schienenbusbahnsteig" befand sich in Herzogenrath an der Stirnseite des
Empfangsgebäudes. Dort fuhren 795 240 und 795 541 wie gewöhnlich ein. An
diesem Tag allerdings entfiel das übliche Umfahren des Beiwagens.
Im Bahnhof Herzogenrath wurde die Leichtkupplungen des Gespanns getrennt. Aus
der Abschiedslaune heraus und als Rückblick auf vergangene Zeiten wurde das
Laufband des Zugzielanzeigers in dem seit 15. März 1972 zum Bw Düren
gehörenden 795 541 durchgekurbelt. Selbst "Kaldenkirchen", der 1978
wahrscheinlich am weitesten entfernte Zielbahnhof des Dürener VT
95-Umlaufplanes und nahe bei dem früheren Schienenbus-Bw Geldern (der ersten
Wirkungsstätte von 795 240), konnte gesichtet werden!
Nachdem 141 430 mit dem E 3092 in Herzogenrath gehalten hatte,
begab sich 795 541 als Solo-VT mit der Zugnummer 7971 auf die Rückfahrt nach
Stolberg.
In der Wartezeit bis zur späteren Abfahrtszeit wurde 795 240 mit einigen
Fliederzweigen aus dem Bahnhofsbereich geschmückt und mit Kreide dem Anlass
entsprechend beschriftet.
Anschließend gab es Gelegenheit zu Erinnerungsfotos.
Doch diese Tour sollte nicht nur die Abschiedsfahrt für die Baureihe 795 sein.
Sie war auch die letzte Fahrt des Triebwagenführers Karl Kreischer. Für den
Einsatz im Schienenbus hatte die Deutsche Bundesbahn nämlich eine Art
"vereinfachten Lokführer", eben jenen "Triebwagenführer" als Berufsbild
geschaffen, mit dem man u.a. ehemalige Lokomotivheizer im Fahrdienst
weiterbeschäftigen konnte. Mit dem Wegfall des Schienenbuseinsatzes hätten die
Triebwagenführer ohne Fortbildung oder Versetzung keine weitere Beschäftigung
finden können. Für den im Fahrdienst schon ergrauten Triebwagenführer Karl
Kreischer war das der Punkt, in den Ruhestand zu treten. So ist dieses Bild
für ihn persönlich ein doppeltes Abschiedsfoto geworden:
Die Uhrzeiger rückten unerbittlich vorwärts, und schließlich setzte sich 795
240 in Bewegung, um schwungvoll knatternd ein letztes Mal die Steigung aus dem
Wurmtal anzugehen. Die Zwischenhalte in Merkstein West und dem Bahnhof
Merkstein waren mit anschließendem "Anfahren im Berg" verbunden. Letztmals war
der vertraute Motorsound des Büssing-Diesels zwischen den Bergarbeiterhäusern
in Merkstein zu vernehmen. Nach nur wenigen Minuten Fahrzeit entstand im
Bahnhof Merkstein dieses Abschiedsfoto. Der Triebwagenführer hatte die junge
Dame schon als Schulmädchen in seinem Schienenbus befördert. Rechts vom
Schienenbus ist noch ein Anschlussgleis zur Grube "Adolf" zu erkennen.
Wie viele Kumpel mögen wohl in vergangenen Zeiten hier einen Schienenbus
benutzt haben.....
Ein Abschiedsfoto aus Alsdorf, dem Herz des Aachener Bergbaureviers, ist
Ehrensache gewesen........
Auch im traditionsreichen Bergbaustädtchen Mariadorf durfte ein Abschiedsfoto
nicht fehlen.
Die weitere Strecke zwischen dem Haltepunkt Hoengen-Begau und Stolberg Hbf mit
ihren vielen unbeschrankten Bahnübergängen bot den Schienenbusfreunden dann
noch reichlich Gelegenheit, dem Signalhorn (Typhon) des Schienenbusses zu
lauschen.
Auf vielfachen Wunsch der kleinen Schar von Eisenbahnfreunden gab es auch bei
dieser Tour wiederum den Fotohalt am einsamen Haltepunkt St. Jöris.
Bei der Rückkehr nach Stolberg Hbf fuhr der Schienenbus schon nicht mehr in
das Gleis 99, sondern durch den Rangierbezirk V an den Hausbahnsteig
(seinerzeit Gleis 1a), weil der Triebwagen anschließend zum Bw Düren überführt
werden sollte. Hier der letzte Blick aus dem geschmückten VT 95 auf das
Stolberger Bahnhofsgebäude.
Bevor 795 240 seine Leerfahrt nach Düren antrat, wurde er im Bw Stolberg noch
mit 795 424 und 995 524 vereinigt, die an diesem Samstag den letzten Zug von
Jülich nach Stolberg gefahren hatten. Außerdem musste noch der Beiwagen 995
562 zum Abtransport nach Düren aus dem Stolberger Lokschuppen gezogen werden.
So ergab es sich, dass Triebwagenführer Karl Kreischer und sein 795 240 im
ehemaligen Heimat-Bw nochmals zu einer Ehrenrunde auf der Drehscheibe kamen.
Standesgemäß sekundiert von den 4 Dürener Loks 290 330, 290 306, 290 307 und
290 173 (v.l.n.r.) ergaben sich dabei diese beiden Abschiedsfotos.
Anschließend wurden alle vier Fahrzeuge vereinigt, und dann knatterte der
vierteilige Verband nach Düren in sein Heimatbetriebswerk. Eine Epoche des
regionalen Schienenverkehrs hatte ihr Ende gefunden.........
Am 28. Mai 1978 übernahmen Akkutriebwagen des Bw Düren, die bereits seit 1961
auf den Nebenbahnen der Region Aachen im Einsatz waren, auch die Zugleistungen
der Schienenbusse. Das Bw Düren behielt allerdings bis zum Ende des
Sommerfahrplans 1978 eine kleinere Anzahl Schienenbusse, die in verschiedenen
Fällen aushilfsweise gelegentlich noch eingesetzt worden sind. 795 240 wurde
mit Datum 27. Mai 1978 zum Bw Gießen abgegeben, 795 541 fand mit Wirkung vom
28. Mai 1978 beim Bw Trier eine neue Heimat.
So ganz ist der VT 95 indes nicht aus der Region Aachen verschwunden. Der
Eisenbahnamateurklub Jülich wurde kurze Zeit später Besitzer von 2 VT 95 und
einem VB 142, mit denen er viele Jahre lang beliebte Sonderfahrten
veranstaltete.
Zudem begann das Zeitalter der privatisierten Nebenbahnen im Rheinland am 23.
Mai 1993 bei der Dürener Kreisbahn mit (zweimotorigen) Uerdinger
Schienenbussen, die schon ab 1992 eingekauft wurden und nach der Anlieferung
der DUEWAG-Regiosprinter im Jahre 1995 von dort in einem mehrere Jahre
dauernden Prozess wieder abgegeben wurden (Die
Schienenbusse der Dürener Kreisbahn). Und selbst im Jahre 2008 bietet die niederländische Museumsbahn
ZLSM in Simpelveld die Möglichkeit, im zweimotorigen Uerdinger Schienenbus VT
98 durch die "holländischen Berge" oder bis vor die Tore Aachens zu knattern.
Und noch ein Nachsatz:
795 240 ist ein rheinisches Urgestein und war lange Jahre in der Aachener
Region unterwegs. Bereits am 18. Dezember 1953 wurde er vom Bw Geldern zum Bw
Stolberg umstationiert und kreuzte mehr als drei Jahre lang durch das Aachener
Revier, bevor er am 13. Mai 1957 wieder zum Bw Geldern zurückgegeben wurde. Am
16. September 1965 fand er, diesmal vom Bw Euskirchen kommend, erneut den Weg
zum Bw Stolberg. Als die Deutsche Bundesbahn im Zuge der Einführung des
elektrischen Fahrbetriebes auf den Hauptstrecken in der Aachener Region den
Triebfahrzeugeinsatz neu organisierte, wurde der seinerzeit noch als VT 95
9240 bezeichnete Triebwagen am 22. Mai 1966 dem Bw Düren zugeteilt, das fortan
auch für den Schienenbuseinsatz auf den Nebenbahnen im Aachener Grenzland
zuständig war. Erst am 27. Mai 1978 wurde er aus dem Rheinland zum hessischen
Bw Gießen umstationiert.
795 240 behielt bis zum Ende sein hochgestelltes drittes Spitzenlicht.
Vielleicht rettet ihm dies das Leben! Denn als die Deutsche Bundesbahn sich
1984/85 zur Feier des 150-jährigen Jubiläums der Eisenbahn in Deutschland nach
historischen Fahrzeugen umschaute, wurde 795 240 als betriebsfähiges
Museumsfahrzeug auserkoren. So kam er 1985 in der Obhut der Eisenbahner aus
dem Rhein-Neckar-Raum (ex-BSW-Gruppe Heidelberg) über 15 Jahre lang zu einer
neuen Blüte und hat als beliebtes Museumsfahrzeug noch nahezu das gesamte
deutsche Schienennetz kennen lernen dürfen. Mindestens einmal, nämlich am 29.
September 1991, ist er bei einer Fahrt auf der Strecke Kall - Hellenthal noch
einmal wieder über eine Strecke aus dem Einsatzgebiet des Bw Düren geknattert.
Die Strecke Stolberg - Herzogenrath hat er jedoch nicht wieder befahren. Unter
der Deutschen Bahn AG folgte noch ein Intermezzo in Lübeck, wo er kaum
eingesetzt wurde, danach verliert sich seine Spur.
So könnte uns die Schienenbuszeit bei der Deutschen Bundesbahn in Erinnerung
bleiben:
Roland Keller